Dolce Vita light

  Kein anderer Landstrich der Welt hat wohl so viel Literatur hervorgebracht wie das Tessin. Zahllose Autorinnen und Autoren von Hesse bis Highsmith fanden in der magischen Landschaft an der Südseite der Schweizer Alpen ihre Wahlheimat und Inspiration.
  Text: Evelyn Rois & Bruno Stubenrauch
  Tief unten, am Grund der steilen Schlucht, fließt der Bach über ausgewaschene Granitblöcke. Unsichtbar von hier oben, wo sich die Straße in unzähligen abenteuerlichen Kurven den Hang entlangschlängelt, doch das gleichmäßige Rauschen füllt das ganze Tal. Unter dem blauen Himmel kreist ein Bussard und steuert sein helles Rufen der Geräuschkulisse bei. Dazwischen: Wald, unendlich viel Wald, unterbrochen von ein paar hellgrünen Weiden, auf denen sich kleine, mit Schieferplatten gedeckte Steinhäuser drängen. Ein Szenario, wie geschaffen für zivilisationsmüde Großstädter. Und sie kamen denn auch in Scharen. Max Frisch und Alfred Andersch tauschten ihre Züricher beziehungsweise Münchner Aussicht gegen den beruhigenden Blick auf die Kastanienwälder. Im Haus der Malerin und Schriftstellerin Aline Valangin und des Zürcher Anwalts Wladimir Rosenbaum im Dörfchen Comologno ganz oben im Tal fand Kurt Tucholsky Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis. Golo Mann und Elias Canetti lebten und schrieben hier. Und das kleine Onsernonetal ist durchaus kein Einzelfall. Die Kombination aus Bergen, Palmen, Sonne und schweizerisch geordneten Verhältnissen wirkte wie ein Magnet auf (nordeuropäische) Intellektuellenkreise. Bakunin, Hesse, Emmy Hennings, Jawlenski, Paul Klee, Hans Arp, Patricia Highsmith - die Liste der Tessin-Immigranten liesse sich fast endlos weiterführen. In den 60er-Jahren waren in der Gegend von Locarno mehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller anzutreffen als in irgend einem anderen Teil der Welt.

Angefangen hatte alles mit dem Aufenthalt Michael Bakunins in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in Locarno. Dem russischen Anarchisten, damals am Höhepunkt seines gesellschaftlichen Einflusses, wurde von der Gemeinde Mosogno gar die Tessiner und damit Schweizer Staatsbürgerschaft verliehen. Die Regierung annullierte den Beschluss zwar umgehend, doch der Ruf des Tessins als liberales Paradies war geboren. Der 1882 eröffnete Eisenbahntunnel durch den Gotthard machten die abgelegenen Täler dann von der Deutschschweiz aus plötzlich bequem erreichbar, mit den ersten sonnenhungrigen Touristen tauchten auch schon bald Sozialreformer und Revolutionäre auf, die hier im südlichen Zipfel der neutralen Schweiz Zuflucht suchten.

Ein Hügel oberhalb des Städtchens Ascona mauserte sich zum sozialutopischen Versuchslabor, in dem fast alle gesellschaftlichen Strömungen, die im 20. Jahrhundert relevant werden sollten, im Kleinen durchgeprobt wurden. Am "Monte Veritá" wurde die Rückkehr zur Natur, die Emanzipation der Frau und Freikörperkultur gelebt und gepredigt. Die Liste der auf dem "Berg der Wahrheit" Verkehrenden liest sich wie das Who is Who der deutschsprachigen Intellektuellenkreise zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach den Anarchisten und Vegetariern kamen die Maler und Schriftsteller, angelockt vom speziellen Licht und der Ruhe, noch später Aussteiger, die nach 68 an die schon einmal auf dem Monte Veritá geprobten Utopien anknüpften und auf verlassenen Almen das entbehrungsreiche alternative Leben probten. Der Nimbus des Landstrichs als geistiges Wunderland ist heute längst verblichen. Das Tessin ist satt geworden, Revolutionen finden inzwischen anderswo statt, doch die Magie dieser Landschaft zwischen schroffen Alpentälern und mediterraner Sanftheit hat absolut nichts von ihrer Kraft eingebüsst.

Während es die Intellektuellen und Aussteiger in den sonnigen Süden zog, war für die Einheimischen lange Zeit die Auswanderung der einzige Wege aus der Armut der unwegsamen Täler. Das Dörfchen Comologno sticht da gleich noch einmal heraus, beherbergt es doch eine der prächtigsten Erfolgsstorys der langen Tessiner Emigrationsgeschichte. Gleich vier Paläste liessen sich die Brüder Remonda, die im 18. Jahrhundert in Marseille ein Vermögen gemacht hatten, zwischen die einfachen Steinhäuser ihrer Heimat bauen. Und das zu einer Zeit als der abgelegene Ort nur über schmale Fusswege mit der Außenwelt verbunden war. Das Wort Palast ist vielleicht ein wenig hoch gegriffen, doch um sehr stattliche Villen handelt es sich allemal. Der "Palazzo Gamboni" ist vor ein paar Jahren samt der komplett erhaltenen Einrichtung von der Gemeinde gekauft und in ein außergewöhnliches Hotel umgewandelt worden. Damit die Hotelgäste auch etwas anständiges zu essen haben, gibt es die "Osteria Al Palazign", deren kulinarischer Ruf inzwischen so weit strahlt, dass auch schon mal ein Mailänder Großindustrieller samt fünfzig Jahre jüngerer Ehefrau per Privathelikopter zum Essen eingeflogen kam. Manchmal kocht Franco Remonda, ein Nachfahre der besagten Brüder, nämlich ausgewählte Rezepte nach einem Kochbuch aus dem Jahr 1792 - was sich anscheinend bis in die besseren Kreise von Milano herumgesprochen hat.

Fährt man auf der engen Straße talauswärts, ist man in weniger als einer Stunde in Locarno - und in einer anderen Welt. Große, elegante Häuser, teure, auf Hochglanz polierte Autos, Luxushotels und lauschige Straßenkaffees, exklusive Boutiquen, gepflegte Parkanlagen, der blitzblaue von Palmen gerahmte See. Kurz: Die Schweiz von ihrer schönsten Schokoladeseite - inklusive einem Hauch erfrischender Italianità. Die riesige, mit Flusskieseln gepflasterte Piazza Grande von Locarno ist von schönen Bürgerhäusern mit den typischen Laubengängen der lombardischen Städten gesäumt. Den Espresso krönt eine duftende crema, wie sie auch in Rom nicht besser sein könnte und selbstverständlich liegt an der Bar neben Schweizer und Tessiner Zeitungen auch die Gazetto dello Sport auf. Immerhin war die Stadt bis Anfang des 16. Jahrhunderts Teil des Herzogtums Milano und wurde erst nach der Eroberung durch innerschweizer Truppen, die sich so das einträgliche Transportmonopol am Gotthardpass sicherten, der Eidgenossenschaft einverleibt.

Auf der anderen Seite des mächtigen Deltas der Maggia, das wie ein riesiger Teller in den Lago Maggiore hineinragt liegt Ascona. Ein klingender Name, Eldorado des Deutschen Wirtschaftswunders. An der Piazza Motta tummelten sich Stars und Starletts wie Catharina Valente, Helmut Zacharias oder Freddy Quinn. Das kleine Städtchen war die brave und gefahrlose Leichtversion von Dolce Vita. Wer hier ein "Hüüsli" oder besser noch eine Villa besass, hatte es geschafft. Der Monte Veritá, Anfangs des Jahrhunderts noch entlegener Zufluchtsort für Utopisten und Sozialreformer, stand bald in einer dichten Brandung von Ferienhäusern. 1970, am Höhepunkt des Booms, benannte Opel sein neues Mittelklassemodell nach dem schmucken Tessiner Ort. Heute sucht man die Stars in Ascona vergeblich (wenn nicht gerade Filmfestival in Locarno ist) und Ziele wie Antalya oder Phuket haben die Südschweiz längst überholt. Dem Charme der Gegend hat das allerdings keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil, hier ist alles ein wenig altmodisch und nostalgisch geblieben, und das steht den Dörfern und Tälern rund um den Lago Maggiore ganz vorzüglich.

Von "Zauber" ist oft die Rede, wenn jemand diese Landschaft mit ihren Hügeln und türkisfarbenen Flüssen, den oft magischen Lichtstimmungen, den verwinkelten Steindörfchen beschreibt. Und dieser Zauber wirkt auch dann ganz hervorragend, wenn man nicht unbedingt beabsichtigt, ein Buch zu schreiben, sondern einfach nur ein paar geruhsame Tage verbringen will. Baden in den tiefen Granitbecken, Wandern durch uralte Kastanienwälder - hier lässt es sich so richtig schön altmodisch Ferien machen. Natürlich kann man sich auch in Disziplinen wie Bungyjumping (auf den Spuren von James Bond in Golden Eye, an der Staumauer im Verzascatal), Abseiling (das heißt wirklich so) oder Canyoning versuchen. Doch dieses neumodische Zeug für hyperaktive Powertouristen will irgendwie nicht so recht zum Tessin passen. Viel angebrachter ist es da, auf einem glattgeschliffenen Granitblock oder in einer duftenden Wiese an der Sonne zu liegen und zu lesen - dank der unzähligen Schriftsteller, die sich hier niedergelassen haben, mangelt es jedenfalls nicht an guter Literatur.

 



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