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Veintidós, trece, cuarentaiséis, el nueve..." Fernando liest mit monotoner Stimme Zahlen vor. Die in einem Kreis auf Klappstühlen um ihn sitzenden hören mit großer Konzentration zu und sind so in ihre Zahlenreihen vertieft, auf die sie Fernandos Litanei übertragen, dass die Sonne, die sich gerade dem Meer nähert und einige hübsche Wölkchen in flammendes Orange taucht, keines Blickes gewürdigt wird. Die fröhliche Runde, die sich da an der Playa de la Caleta in Cádiz versammelt hat spielt Bingo, offensichtlich eine große Passion der Gaditanos, denn gleich mehrere größere und kleinere Runden verteilen sich über den feinen sichelförmigen Sandstrand, der sich zwischen den Festungen Santa Catalina und San Sebastián erstreckt. Fernando ist bei der Zahl dreiunddreissig angelangt, Antonia ruft triumphierend "Bingo!" und die Konzentration der Runde löst sich augenblicklich, so dass nun sogar die untergehende Sonne kurz Beachtung findet. Wenn eine Stadt auf drei Seiten vom Meer umspühlt wird, über den offiziell laut EU schönsten Stadtstrand Europas - werden zumindest die Einwohner von Cádiz nicht müde zu betonen - verfügt und noch dazu fast das ganze Jahr über strandtaugliches Wetter herrscht, ist ein sensationelles Abendrot über den Weiten des Atlantiks eben so alltäglich wie für unsereins bei Regen im Stau stehen oder U-Bahn fahren.
Das weiße Häusermeer der Stadt drängelt sich auf einer langen, schmalen Halbinsel im Atlantik. Diese strategische Lage am westlichsten Ende Spaniens hat Cádiz einst sehr reich gemacht, denn irgendwo da draußen, wo gerade die Sonne untergeht liegt Amerika und die ehemaligen spanischen Kolonien. Längst ist das natürlich kein besonderer Standortvorteil mehr. Industrialisierung und Moderne sind an der einstigen Weltstadt eher spurlos vorübergegangen, und heute wird Cádiz von den berühmten Nachbarn Jerez und Sevilla überstrahlt. Allerdings hat diese Randlage den nostalgisch rauhen Charme der wunderschönen Hafenstadt, der anderen andalusischen Metropolen längst wegrenoviert wurde, unbeschadet in die Gegenwart hinübergerettet.
Auf einem der Dächer vor dem Hafen flattert Wäsche im Wind, deutlich sind die einzelnen T-Shirts und Hemden auszumachen. Menschen eilen durch eine enge Gasse, zwei Girls auf einem Moped fahren vorbei. Völlig gebannt starren die Anwesenden auf die kreisrunde, gewölbte Scheibe, auf die eine starke Linse Fragmente der Stadt wirft. Die Stimmung im abgedunkelten Raum gleicht einem spiritistischen Geheimtreffen, bei dem sich gerade Wesen aus einer anderen Welt manifestieren - so spannend kann die Realität sein. Die Optik streift weiter über die Stadt und wirft zwei Männer, die am Fischmarkt unbeschwert miteinander plaudern und keine Ahnung davon haben, dass sie gerade von 15 Augenpaaren ins Visier genommen werden, auf die Scheibe. Das Dachgeschoß des Wachturms, das unlängst zur Camera Obscura umgebaut wurde, verschafft ungeahnt witzige Einblicke in die kleinen Geheimnisse der Stadt. Nichts entgeht einem von hier oben und genau deswegen hat die Familie Recaño im 18. Jahrhundert den Torre Tavira auf ihren Palast gebaut. Damals war man allerdings mehr am Geschehen auf dem Meer interessiert. Es galt, die einlaufenden Galeonen aus Südamerika zu erspähen um dann rechtzeitig am Hafen für ein lukratives Geschäft präsent zu sein. Tausende Tonnen Silber und Gold aus den neu unterworfenen Kolonien in Südamerika fanden über die Piers von Cádiz ihren Weg nach Europa, über zweihundert solcher Beobachtungsposten erhoben sich damals über die Dächer der Stadt.
Eigentlich war der Handel mit den Kolonien ja Sevilla vorbehalten, doch die zunehmend schwieriger zu befahrene Passage auf dem Fluss Guadalquivir in den 80 Kilometer landeinwärts gelegenen Monopolhafen machte Cádiz immer attraktiver. Die Stadt erlebte den Boom ihrer Geschichte, wuchs rasant und füllte bald die ganze Halbinsel auf. Nur die schmalen, lang gezogenen Gassen und die Gärten der zahlreichen Klöster blieben unverbaut. An Autos hat man dabei natürlich nicht gedacht, an Lastwagen schon gar nicht, und so ist denn die Altstadt bis heute weitgehend den Fußgängern reserviert. Alles an Cádiz ist aufs Meer hin ausgerichtet. Wie Leuchttürme erheben sich die Türme der am Höhepunkt der Macht Anfangs des 18. Jahrhunderts erbauten, neuen Kathedrale über den Campo de Sur. Die strahlend gelb gekachelte Kuppel, die den riesigen, weißen Bau krönt, ist überhaupt nur vom Atlantik aus wirklich sichtbar. Tacita de plata, silbernes Tässchen, nannte die Amerikafahrer ihre leuchtende, zu Reichtum gekommene Stadt liebevoll. Die jahrhundertelange, rege Verbindung mit Südamerika hat natürlich Spuren hinterlassen. Auf den Plätzen der Stadt wachsen südamerikanische Drachenbäume, im Genovés Park fliegen Schwärme von knallgrünen Papageien zwischen den Palmen hin und her, an den Uferpomenaden stehen gigantische Gummibäume, die als Zimmerpflanzen nicht einmal mehr in den Stephansdom passen würden. Im Grunde mutet die ganze Stadt wie ein nach Europa versetztes Stück Südamerika an. Was auch den Produzenten des letzten James Bond Streifens "Die another Day" nicht entgangen sein dürfte - die Szenen, die im Film in Havanna spielen, wurden hier in Cádiz gedreht.
Wie aus einem Film mutet dann auch die Szene in der Calle Sagasta an, wo eine fette weiße Bulldogge ihren faltigen Kopf zum vergitterten Fenster rausstreckt und von den Vorbeikommenden im zwei Minuten Takt wie ein Star wahlweise gegrüßt, getätschelt oder gar abgeschmust wird. Und wieder hat man dieses starke Gefühl, eigentlich längst schon in Havanna zu sein. Nachdem die Sonne untergegangen ist und die Hitze des Nachmittags von einer angenehmen Atlantikbrise abgelöst wird, kommen Antonia und Fernando vom Strand zurück, den Klappstuhl unter den Arm geklemmt. Überall in den engen Gassen trifft man jetzt Menschen, die mit ihren Strandutensilien nach Hause pilgern. Die Stadt löst sich nun schlagartig aus ihrer nachmittäglichen Hitzestarre. Die Leute strömen auf die Straße, und auf den Plätzen, wo noch vor einer Stunde höchstens ein paar einsame Katzen anzutreffen waren, sammeln sich diskutierende Menschentrauben. Das Leben kommt wieder in Gang und auch José Rebujina sperrt seine Bar auf, denn bald schließen die Geschäfte, und dann geht man erst mal auf ein Gläschen Wein oder Sherry, bevor man sich fürs Abendessen schick macht. Dass Rebujina in jungen Jahren als Stierkämpfer in der Arena stand, ist nicht zu übersehen. Fotos und Plakate überziehen alle Wände seines Lokals "El Albero", in einer Vitrine prangt das blauglitzernde Stierkämpferkostüm samt Säbel. Das Barrio de la Viña, wo seine Bar liegt, ist ein wenig versteckt und läge nicht das wohl berühmteste Lokal von Cádiz "El Faro" an der selben Straße, würden sich wahrscheinlich nie Fremde in das alte Fischerviertel verirren. Nach dem Fino und ein paar gefüllten Oliven bei José gibt es mehrere Möglichkeiten, die abendliche Tour fortzusetzen. "El Faro" oder das sehr urige "Manteca", wo die Tapas auf einem kleinen Stück Wachspapier serviert werden, liegen gleich nebenan. Danach kann man zur Plaza Mentidero weiterziehen oder man arbeitet sich über Plaza de las Flores Richtung Kathedrale vor.
Am nächsten Morgen ist die Stadt plötzlich voll mit noblen, leicht overdressten Briten, die etwas hilflos durch das Labyrinth der engen Gassen stolpern und mit ihren Stadtplänen die Sehenswürdigkeiten Cádiz' aufzuspüren versuchen. Beim Kaffee auf der Plaza San Juan de Dios wird klar, wo diese unerwartete Invasion ihren Ursprung hat: Im Hafen liegt ein riesiges englisches Kreuzfahrschiff, blendend weiß und so hoch, dass es die fünfstöckigen Häuser an der Hafenpromenade spielend überragt. Die Gaditanos nehmen den Überfall gelassen, weisen geduldig den Weg durch das Straßengewirr. Später dröhnen dann die Sirenen des Luxusliners durch die Gassen, mitten in der Siesta, dass die Papageien aus den Bäumen im Stadtpark aufstieben und die Leute aus ihrem Nachmittagsschläfchen hochschrecken. Die Briten entschwinden auf ihrem weißen Kasten Richtung Gibraltar, im "Silbertässchen" nimmt das gewohnte Leben seinen Lauf, am offenen Fenster wird getratscht, der Kanarienvogel im Käfig am Türstock pfeift seinen Senf dazu, die Schatten werden wieder länger. Höchste Zeit für eine Runde Bingo am Strand.
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