CULTURAL HERITAGE SEMMERING
 

Belle Époque 2.0

 

Der Semmering hat eine große Vergangenheit als Treffpunkt der Kulturelite
des Fin de Siècle. Nach längerem Dornröschenschlaf gibt es seit einigen
Jahren vielversprechende Bestrebungen, an frühere, glanzvolle Zeiten anzuknüpfen.

  Text: Evelyn Rois & Bruno Stubenrauch
 

Aufgestapelte Möbelmassen, raumhohe Spiegel, Jugenstil-Luster, Fauteuils mit geschwungener Lehne, vor den enormen Fenstern der Salons das perfekt gerahmte, alpine Panorama: Das legendäre Südbahnhotel am Semmering, in seiner Blütezeit zur Belle Époque mit 350 luxuriösen Zimmern eines der führenden Palasthotels Mitteleuropas, gleicht heute einer nostalgischen Zeitkapsel. Ein mystischer Ort, der seit den späten 1970er Jahren in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen ist und mitnimmt auf eine Zeitreise zu einem wichtigen Originalschauplatz der Wiener Kulturelite um 1900.

Kultur als Impuls
Einige Jahre schon sind die verwaisten historischen Salons wieder mit kulturellem Leben gefüllt: Seit 2018 öffnet das Festival Kultur.Sommer.Semmering das geschichtsträchtige Südbahnhotel mit Lesungen, Liederabenden und Konzerten einem kulturinteressierten Publikum. Den Anfang nahm das Festival bereits vor 10 Jahren im benachbarten Kurhaus Semmering, das mittlerweile als Spielstätte vom Südbahnhotel abgelöst wurde. „Betritt man die großen ehemaligen Grandhotels auf dem Semmering, scheint es, als wäre die Zeit stillgestanden und jeden Moment könnten Stefan Zweig, Hugo von Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler um die Ecke biegen“, meint denn auch Florian Krumpöck, Pianist und seit 2015 Intendant des Festivals, das jede Saison eine Reihe, mit den aktuellen Stars der österreichischen Kunstszene prominent besetzter Veranstaltungen auf die Bühne bringt. „Es freut mich ganz besonders, mit welcher Begeisterung das Publikum sowie die hochkarätigsten Künstlerinnen und Künstler des Landes seit einigen Jahren der Faszination und Sogkraft dieses Ortes nachspüren“, so Krumpöck weiter, der auch programmatisch bestrebt ist, an frühere, glanzvolle Zeiten des Semmerings anzuknüpfen.

Fin de Siècle Gesellschaft
Frische Luft, ausgedehnte Wälder, der weite Blick - die Sommerfrische gehörte bereits ab den 1850er Jahren zum guten Ton der gehobenen Gesellschaft der Habsburgermonarchie. Die Eröffnung der spektakulären Südbahnstrecke 1854 rückte den Semmering sehr viel näher an Wien und verwandelte die Passhöhe vom nur unter großen Strapazen überwindbaren Verkehrshindernis plötzlich in eine leicht erreichbare, wildromantische alpine Traumlandschaft. In nur zwei Stunden konnte man nun bequem von der Hauptstadt per Zug anreisen. „Rein ausgespannt, mit klaren, vom nassen Wind reingefegten Hintergründen lag wieder die hingebreitete Landschaft“, schreibt Stefan Zweig in den ersten Sätzen seiner bekannten Novelle „Brennendes Geheimnis“ über das reizvolle Panorama des Semmering. Das auf exakt 1.000 Meter Seehöhe erbaute, 1882 eröffnete Südbahnhotel machte den Semmering zum ultimativen „Place to be“ für die Fin-de-Siècle-Gesellschaft der Donaumonarchie. Rund um das Hotel entstanden feudale Villen, weitere luxuriöse Hotels wie das 1888 eröffnete Panhans oder das Kurhaus Semmering folgten.

Intellektuelles Zentrum
Mitteleuropas

Insbesondere das aufstrebende, kunstsinnige jüdische Bürgertum, und mit ihm die Wiener Kulturgrößen, hatte den Semmering als bevorzugten sommerlichen Rückzugsort auserkoren. Die Gästebücher der großen Hotels am Semmering zu Beginn des 20. Jahrhunderts lesen sich denn auch wie das „Who is Who“ der geistigen Elite der Monarchie. Karl Kraus, Alma Mahler, Franz Werfel, Koloman Moser, Oskar Kokoschka, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Egon Friedell, Max Reinhardt, Gerhart Hauptmann, Lina Loos, Arnold Schönberg - die Liste ließe sich noch lange fortführen. In den Salons am Semmering wurden nicht nur Ehen angebahnt und Geschäfte eingefädelt, hier wurden auch zahlreiche bahnbrechende Ideen des großen kulturellen Aufbruchs der Jahrhundertwende ausgearbeitet. Ebenso fand der Semmering Eingang in einige literarischen Schlüsselwerke der Wiener Moderne. Arthur Schnitzler etwa, selbst langjähriger Stammgast, verarbeitete das Treiben in den Salons des Südbahnhotels zu seiner epochalen Tragikomödie „Das Weite Land“. Jede einzelne Figur des Theaterstücks liess sich laut Zeitzeugen einem Namen auf der Gästeliste der Hotelikone zuordnen.

Renaissance
der Sommerfrische

Über das Werk Arthur Schnitzlers ist auch Erika Pluhar auf den Semmering und seine spezielle Rolle als Kraftort des Wiener Fin de Siècle aufmerksam geworden. Die bekannte Sängerin und Schauspielerin, die bereits als kleines Kind einen ersten Sommer hier verbracht hat, ist heute eine Stammkünstlerin des Kultur.Sommer.Semmering: „Diese Stimmung von Luxus - einer Welt ‚nicht von dieser Welt‘ - eroberte sogar mich Kleinkind und blieb unvergessen. Viel später erst las und spielte ich Schnitzler, erfuhr vom Flair dieser Bergwelt so nahe bei Wien. Jetzt das Südbahnhotel, das Kurhaus, diesen Atem von Vergangenheit, wieder mit Gegenwart und lebendigem künstlerischen Ausdruck zu verbinden, ist ein schönes Unterfangen.“ Auch auf höchster politischer Ebene in Niederösterreich ist man sich bewusst, dass der Semmering ein kultureller Schatz ist, den es zu heben gilt, wie Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner betont: „Wir sind sehr optimistisch, dass der Semmering wieder jene Bedeutung von damals erreichen kann. Das beste Beispiel, dass uns eine erfolgreiche Entwicklung auch wirklich ernst ist, ist das Festival Kultur.Sommer.Semmering. Das Renommee des Semmerings als mondäner und historischer Sommerfrischeort lässt sich wunderbar in die Jetztzeit übertragen.“ Aufhorchen ließ jedenfalls 2019 der umtriebige Grazer Hotelier Florian Weitzer mit dem Kauf des Kurhaus Semmering, das er als zeitgemäße Interpretation der Sommerfrische wiedereröffnen möchte. Bis es soweit ist, wird ob der aufwändigen Renovation des denkmalgeschützten Hauses allerdings noch einige Zeit vergehen. Einen Namen für das ambitionierte Projekt hat Weitzer allerdings schon: Als „Grand Semmering“ soll das Kurhaus an einstige Größe anschließen. Auch für das Südbahnhotel, das nach wie vor zum Verkauf steht und das Dezember 2020 endlich auch unter Denkmalschutz gestellt wurde, ist die Richtung einer behutsamen Revitalisierung vorgezeichnet.

Die Aura des kleinen Kurortes ist jedenfalls ungebrochen, wie auch Kultur.Sommer.Semmering Intendant Krumpöck anmerkt: „Der Semmering als künstlerische und seelische Inspirationsquelle wird von Jahr zu Jahr geradezu euphorisch wiederentdeckt!“ Die Chancen, dass der Semmering wieder ein Zentrum, Ideengenerator und Treffpunkt der Kulturschaffenden wird, stehen also ausgesprochen gut.

 



copyright: rois&stubenrauch | für Cercle Diplomatique 2/2021

  > textanfang
 
   
  copyright rois&stubenrauch - www.breve.at