„Nationalbibliotheken
waren immer auch Orte
der Repräsentation
politischer Macht.“

  Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Österreichische Nationalbibliothek
über die europäische Dimension und die kommenden Herausforderungen
der ÖNB

  Interview: Rois & Stubenrauch
 

Die Bestände der ÖNB sind ein gewichtiger Teil des kulturellen Erbes Österreichs und Europas. Welches sind diesbezüglich die bedeutendsten Dokumente?

Durch die gesamteuropäische Ausrichtung des Habsburgerreiches gelangten zahlreiche historische Sammlungen von europäischem Rang an die Hofbibliothek und spätere Nationalbibliothek. Dazu gehört sicherlich der bedeutende Bestand an spätantiken und mittelalterlichen Handschriften, zu nennen wäre hier der Wiener Dioscurides, ein spätantikes griechisches Heilkräuterbuch aus Byzanz. Zu unseren kostbarsten Schätzen zählt auch die Tabula Peutingeriana, eine spätrömische Straßenkarte des gesamten Römischen Reiches, die in Form einer unikalen mittelalterlichen Kopie erhalten ist. Aus den Anfängen des Buchdruckes ist neben einem Exemplar der 42-zeiligen Gutenbergbibel vor allem auch der Mainzer Psalter hervorzuheben. Vieles mehr wäre hier noch zu nennen: eine umfangreiche Sammlung historischer Globen und kartographischer Werke oder auch unikale Musikautographen.

Die Digitalisierung geht einher mit einer starken Demokratisierung des Wissenszugangs. Inwiefern können Plattformen wie Europeana zur Bildung einer Europäischen Identität beitragen?

Nationalbibliotheken waren immer auch Orte der symbolischen Repräsentation politischer Macht. So wie die kaiserliche Hofbibliothek die Donaumonarchie repräsentierte, so wurde die „Österreichische Nationalbibliothek“ zu einem Symbol der Zweiten Republik.
Heute stehen wir in einem schrittweisen europäischen Einigungsprozess, und ich sehe es als eine wichtige Aufgabe der Nationalbibliotheken Europas, diese Entwicklung zu unterstützen. Das Europeana-Projekt ist aus der Idee entstanden, auch in der digitalen Welt ein gemeinsames europäisches Vorzeigeprojekt zu schaffen, als Gegengewicht zu einem US-amerikanisch dominierten Cyberspace. Ich bin überzeugt, die Besinnung auf unser gemeinsames europäisches Kulturerbe kann mithelfen, die Idee eines geeinten Europas zu fördern.

Welches sind in Ihren Augen die wichtigsten der zahlreichen internationalen Kooperationen der ÖNB?

An erster Stelle sind hier sicherlich die EU-Projekte zu nennen, an denen unser Haus seit über zwei Jahrzehnten mit europäischen Partnerbibliotheken und –institutionen intensiv zusammenarbeitet. Das betrifft vor allem Bereiche wie Massendigitalisierung, Langzeitarchivierung oder den Aufbau des EUROPEANA-Portals. Dazu kommen spezifische Kooperationsnetze auf fachwissenschaftlicher Ebene wie beispielsweise KOOP-LITERA, ein Netzwerk der deutschsprachigen Literaturarchive.

Wo sehen Sie die Herausforderungen für die ÖNB in den kommenden Jahren?

Unter dem Titel „Wir öffnen Räume“ erarbeiten wir gerade eine „Vision 2035“. Ziel ist es, Angebote und Formate zu entwickeln, welche die gespeicherten Informationen umfassend zugänglich machen. Wir wollen mit unseren Datenbeständen, Infrastrukturen und Services lebenslanges Lernen unterstützen und Forschungsprozesse effizienter machen.

 




copyright: rois&stubenrauch | für Cercle Diplomatique 3/2021

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